„Ein Entwicklungsland“: So lautete bereits vor der Corona-Krise das vernichtende Urteil von Experten zum Stand des E-Learnings in Deutschlands Schulen. Während allen voran die Länder im Norden Europas, in Skandinavien und im Baltikum, keine Zeit verlieren mit der Digitalisierung ihrer Schulen, schienen in Deutschland bis vor wenigen Wochen noch immer die Bedenkenträger das Sagen zu haben. Doch die Situation hat sich dramatisch gewandelt: Seit Millionen Schülerinnen und Schüler in Zeiten der Corona-Pandemie ihr Klassenzimmer nicht mehr betreten können, geht es nicht darum, ob die Online-Schule traditionellere Unterrichtsmethoden ergänzen sollte. Es geht nur noch um die Frage nach dem Wie.
Deutschlands Lehrer gehen online
Für Lehrerinnen und Lehrer stellt sich die Situation rund ums E-Learning derzeit oft als Sprung ins kalte Wasser dar. Sie wurden kaum dafür ausgebildet, eine fundierte Wahl für eine bestimmte Lernplattform, digitale Medien und Apps zu treffen. Angesichts des Föderalismus im deutschen Bildungssystem ist die Lage in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich: Während einige Länder bereits vor dem weltweiten Ausbrauch von Covid-19 E-Learning-Plattformen und digitale Lernangebote etabliert hatten, wurden andere gänzlich unvorbereitet getroffen. Und so gleicht das elektronische Homeschooling, das sich de facto in Deutschland in den Wochen vor den Osterferien etabliert hat, einem großen Patchwork aus unterschiedlichsten digitalen Inhalten und Systemen.
Digitales Vorbild Baltikum
Entwicklungshilfe kommt dabei von ungewohnter Seite: Die kleine Republik Estland etwa, der nördlichste der drei baltischen Staaten, hat angekündigt, während der Corona-Krise alle seine digitalen Lernlösungen weltweit kostenlos zur Verfügung zu stellen, das estnische Startup 99math hat eine Liste mit hilfreichen Ressourcen fürs E-Learning veröffentlicht. Sie dient auch deutschen Lehrkräften als Inspirationsquelle für den virtuellen Unterricht, löst freilich noch nicht das Hardwareproblem (hier hat sich dieser Tage Litauen besonders hervorgetan mit seiner Initiative, sozial benachteiligten Schülern bis Ostern 15.000 Tablets fürs E-Learning zur Verfügung zu stellen).
Startup sucht Übersetzer
Neben fehlender Hardware existiert aber noch eine weitere Hürde für den Einsatz der weltweit besten E-Learning-Apps an deutschen Schulen: Viele Angebote sind schlicht noch nicht ins Deutsche übersetzt, was gerade im Grundschulbereich ein Problem ist. Wenn Schulen nach den Osterferien tatsächlich in großer Zahl online unterrichten müssen, wird hier ein großer Bedarf an qualitativ hochwertigen Übersetzungen entstehen – allen voran aus dem Englischen. Einige ausländische Anbieter wiederum sind bereits aktiv geworden und haben ihre E-Learning-Angebote selbstständig ins Deutsche übersetzt – allerdings offenbar nicht immer unter Einsatz von Muttersprachlern, was sich in der sprachlichen Qualität widerspiegelt. Übersetzungsagenturen, die neben der weltweiten Lingua franca Englisch auch Expertise in selteneren Sprachen wie etwa Finnisch, Estnisch, Schwedisch oder Dänisch anbieten können, wären hier bessere Partner, um innovativen Startups aus Nordeuropa den Weg auf den deutschen Markt für digitalisierte Schulen zu ebnen.
E-Learning und Lehrpläne
Längst nicht alle digitalen Bildungsinhalte werden sich jedoch importieren lassen – dafür sorgen allein die unterschiedlichen Lehrpläne der deutschen Bundesländer. E-Learning-Anbieter auf dem deutschen Markt sind daher bei der Texterstellung auf lokale Expertise angewiesen. E-Learning-Autor zu werden ist auf dem unsicheren Arbeitsmarkt in Corona-Zeiten sicher ein Berufsfeld mit Zukunft. In Stellenanzeigen werden bereits händeringend gute Autorinnen und Autoren gesucht, vorzugsweise mit Lehramtsstudium. Allein: Lehrkräfte sind ohnehin bereits rar, es ist bekannt, wie sich deutsche Schulen in den vergangenen Jahren Stück für Stück Quereinsteigern in die Pädagogik öffneten. Werden sich die benötigten E-Learning-Autoren also tatsächlich alle unter jungen Menschen mit Befähigung zum Lehramt finden lassen?
Qualitative Texterstellung
Ein anderes Szenario erscheint wahrscheinlicher: Wer auf den steigenden Bedarf an maßgeschneiderten E-Learning-Inhalten für Schulen in Bayern wie Brandenburg, in Berlin wie in Bremen und in NRW wie in Sachsen reagieren möchte, braucht einen Partner für Inhalte an seiner Seite. Allein über Freelancer wird sich der Bedarf an E-Learning-Texten nicht decken lassen. Content-Agenturen wiederum mögen in der Lage sein, quantitativ jede Menge an digitalen Inhalten für die Schule zu produzieren. Doch Content ist nicht gleich Inhalt, und bei digitalen Lernmaterialien sind andere Tugenden gefragt als die Suchmaschinenoptimierung, die für immer mehr Texter zum Maß aller Dinge geworden ist.
Digitale Schulen: Chancen ergreifen
Was also muss geschehen, damit Textagenturen und Anbieter von E-Learning-Lösungen zusammenfinden? Eigentlich nicht viel. Eine gute Agentur verfügt bereits über Autorennetzwerke mit einem vielfältigen fachlichen Hintergrund. Auf Managementebene muss in den Agenturen ein Bewusstsein für die spezifischen Anforderungen wachsen, die digitale Lernmaterialien von der Grundschule bis zur gymnasialen Oberstufe mit sich bringen. E-Learning-Anbieter wiederum müssen den Mut aufbringen, einen größeren Teil ihrer Textproduktion einem externen Dienstleister zu übertragen, um die sich jetzt bietenden Wachstumschancen auf dem Markt für digitalisierte Schulen zu ergreifen.